Flammen über Tanklager in Luhansk
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Ukrainischer Angriff auf russisches Tanklager

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Angriffe auf Putins Raffinerien: "Wirksamer als Sanktionen"

Anders als US-Präsident Joe Biden halten amerikanische Politologen die Bombardierung russischer Ölraffinerien für erfolgversprechend: "Kiew muss dort gewinnen, wo es möglich ist." Ob diese Strategie Putins Regime schwächt, ist in Russland umstritten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Abermals schimpften russische Militärblogger auf die eigene Luftabwehr, weil ein Tanklager im besetzten Luhansk nach einem ukrainischen Drohnenangriff in Flammen aufging. Ob es militärisch und politisch sinnvoll ist, Putins Energie-Infrastruktur zu schwächen, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Der Kampf um Deutungshoheit tobt nicht weniger als der auf dem Schlachtfeld. Das rohstoffreiche Russland exportiert auf Anweisung der Regierung tatsächlich seit 1. März kein Benzin mehr, weil Treibstoff im eigenen Land knapp wurde. Derzeit überlegt der Kreml russischen Wirtschaftsblättern zufolge, die Ausfuhr zumindest vorübergehend wieder aufzunehmen, doch das bleibt Spekulation.

Die russische Propaganda, die einst Europa "einfrieren" wollte, hatte immer wieder "Logistikprobleme" für Engpässe im eigenen Land verantwortlich gemacht. Offiziell heißt es, die ukrainischen Angriffe würden die Raffinerie-Kapazitäten kaum beeinträchtigen, im Übrigen würden Schäden "immer schneller" behoben. Außerdem müsse US-Präsident Joe Biden um seine Wiederwahl im November fürchten, so die Kreml-Fans, wenn die Energiepreise weltweit anstiegen.

"Mehr, nicht weniger Rohöl"

Im US-Fachblatt "Foreign Affairs" argumentierten drei Experten für Strategie- und Energiemarkt-Fragen dagegen, die Ukraine liege genau richtig mit ihrer Entscheidung, Putins Raffinerien zu treffen, nicht nur deshalb, weil der Ölpreis aktuell deutlich rückläufig sei: "Mit den Angriffen werden genau die Ziele erreicht, die sich die westlichen Partner der Ukraine vorgenommen, aber durch die Sanktionen und die Preisobergrenze für russisches Öl weitgehend verfehlt haben: die finanzielle und logistische Fähigkeit Russlands, Krieg zu führen, zu verringern und gleichzeitig größeren Schaden für die Weltwirtschaft zu begrenzen."

Deshalb sei die kürzlich geäußerte Kritik der US-Regierung am ukrainischen Vorgehen auch "fehl am Platz". Amerikanische Medien hatten gemeldet [externer Link], das Weiße Haus fürchte tatsächlich weltweit steigende Energiepreise, wenn Russland als Treibstoff-Lieferant ausfalle. Das genaue Gegenteil sei richtig, so die Autoren von "Foreign Affairs": "Tatsächlich wird Russland aufgrund der geringeren inländischen Raffineriekapazität gezwungen sein, mehr, nicht weniger Rohöl zu exportieren, was die globalen Preise eher nach unten als nach oben drücken wird. Tatsächlich haben russische Firmen bereits damit begonnen, mehr unraffiniertes Öl ins Ausland zu verkaufen."

"Angriffe der Ukraine funktionieren"

Putin werde also gleich doppelt schmerzhaft getroffen: Einerseits fehlten ihm verarbeitete Ölprodukte, die er im Ausland teuer zukaufen müsse, andererseits bekomme er für sein Rohöl tendenziell immer weniger Geld: "Wenn Russland sich dafür entscheidet, Bohrlöcher zu schließen, anstatt die Exporte zu steigern, würde der globale Ölpreis tatsächlich steigen – die Folge, die die Biden-Regierung vermeiden möchte. Aber Russland würde dann mit einem noch stärkeren Anstieg der Kosten für importierte Raffinerie-Produkte konfrontiert sein, gleichzeitig mit noch geringeren Ausfuhreinnahmen, um den Schlag abzufedern." Das klare Fazit der Experten: "Die Angriffe der Ukraine funktionieren." Sie seien wirksamer als Sanktionen.

"Es ist wie bei Mücken"

Zu einer ähnlichen Einschätzung waren zuvor das US-Newsportal "Politico" und der Nachrichtensender CNN gekommen [externer Link]. Dort war von einer "Gewinnerstrategie" die Rede, der britische Ex-Geheimdienstler Philip Ingram war mit dem Satz zitiert worden, das Vorgehen der Ukraine werde einst auf Militärakademien unterrichtet werden: "Das ist wie bei Mücken – man kann sie nicht aufspüren und totschlagen, sie schwärmen Nacht für Nacht herein und saugen einen aus. Es ist eine sehr gute Möglichkeit, den Druck von der Front zu nehmen."

Der estländische Energie-Fachmann Raivo Vare sagte in einem Interview, es sei wohl kein Zufall, dass die Ukraine zwar Putins Raffinerien bombardiere, nicht jedoch die russischen Öl-Verladestationen am Schwarzen Meer: "Wie Sie wissen, war das ein sehr nachdringlicher Wunsch der amerikanischen Partner, unter dem Gesichtspunkt der Weltmarktpreise für Öl." Jetzt, wo das neueste Hilfspaket durch den US-Kongress gekommen sei, habe die Ukraine bei ihren Angriffen aber generell wieder "freie Hand".

Sanktionen "reine Formsache"?

Die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" meldete, die russische Ölindustrie sei in einem beklagenswerten Zustand, was die Erschließung neuer Quellen angehe. Die Technik sei wegen der Sanktionen völlig veraltet, große Unternehmen forderten vom Kreml millionenschwere Subventionen.

Wenn es bei der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti triumphierend heißt, die Ukraine sei mit ihren Angriffen auf Russlands Ölwirtschaft "völlig gescheitert", ist das keineswegs ein Widerspruch zu den oben ersichtlichen US-Analysen. Dort wird ja nicht bestritten, dass Putin mit Rohöl-Exporten weiterhin gutes Geld verdient. Es wird sogar als erwünscht dargestellt.

Dazu passt ein Bericht des russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant" [externer Link], wonach der Westen zwar daran interessiert sei, dass die russischen Rohölexporte Putin so teuer wie möglich kommen, etwa durch erhöhte Versicherungsprämien und komplizierte Abrechnungen, aber niemand wolle, dass Moskau echte "Exportprobleme" bekomme. Deshalb seien manche Sanktionen "reine Formsache".

"Habe ich das richtig verstanden?"

Wie sehr beim Umgang mit Ölprodukten "über Bande" gespielt wird, zeigt folgendes Beispiel: Russland soll Öl im Wert von umgerechnet rund 40 Milliarden US-Dollar nach Indien geliefert und dafür Rupien erhalten haben [externer Link]. Weil die jedoch weder umtauschbar, noch ausführbar sind, mussten die Gelder wohl oder übel in die indische Wirtschaft "investiert" werden.

Bei russischen Lesern sorgte das für nicht geringe Verwirrung: "Habe ich das richtig verstanden? Wir geben ihnen Öl und sie geben uns wertlose Rupien?" Ein anderer spottete: "Rupien zu investieren, um noch mehr davon zu bekommen - genial!" Moskau sei bei solchen Geschäften allenfalls der "moralische Sieger". Die Bilanz eines der Kommentatoren: "Die neue Realität ist, dass sich die ganze Welt daran gewöhnt, ohne Russland auszukommen."

"Unterschwellige Ängste einer Handvoll Menschen"

"Seit Jahrzehnten sind wir davon überzeugt, dass die hinterhältigen Amerikaner nur davon träumen, sich unsere kostbaren russischen Öl- und Gasreserven unter den Nagel zu reißen, und dass sie bereit sind, alles dafür zu tun, einschließlich eines aggressiven Eroberungskrieges", spottete der russische Politikwissenschaftler Andrej Nikulin [externer Link] über die Debatte. Doch jetzt habe der Westen die russischen Bodenschätze offenbar gar nicht nötig und bediene sich zu höheren Preisen anderweitig: "Es stellt sich heraus, dass wir die ganze Zeit damit beschäftigt waren, die unterschwelligen Ängste einer Handvoll Menschen, die einst das Eigentum des russischen Volkes stahlen und befürchteten, dass sie ihrerseits übers Ohr gehauen würden, auf die ganze Bevölkerung zu übertragen."

Tatsächlich seien die russischen Energiereserven entgegen bisheriger Annahmen für "niemanden lebensnotwendig oder von Interesse", so Nikulin: "Außer vielleicht für uns selbst, aber wir interessieren uns nur für die Ukraine. Traurige Ironie!"

"Spannend, was als nächstes passiert"

Ähnlich sarkastisch drückte sich der russische Exil-Politologe Anatoli Nesmijan aus. Der einst mächtige russische Gazprom-Konzern habe sich quasi schon "selbst erhängt" und sei "dem Untergang geweiht": "Spannend ist, was als nächstes passiert. Wenn das derzeitige Durcheinander irgendwie geregelt, der Konflikt in der Ukraine gelöst und die Zeit gekommen ist, Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen auszuhandeln, wird Gazprom höchstwahrscheinlich dabei eine Rolle spielen und zum Verkauf angeboten. Der Westen wird potenzielle Waffen nicht in den Händen des Kremls lassen (egal, wer darin sitzt). Das gilt übrigens für Gas und Kernenergie gleichermaßen."

Derweil fragt sich die russische Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Forbes, ob Gazprom überhaupt noch Dividende zahlen kann, jetzt, wo ein Milliardenverlust eingefahren wurde und sich der Aktienkurs im freien Fall befindet. Grund dafür soll übrigens sein, dass der Kreml dem Konzern eine enorme Steuerlast auferlegte, obwohl die Einnahmen dramatisch zurückgingen.

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