Ein Mechaniker arbeitet an einem Autoreifen. Darüber liegt der Schriftzug "Zerstören wir den Mittelstand?"
Bildrechte: picture alliance / dpa Themendienst | Alexander Heinl

Zerstören wir den Mittelstand?

Per Mail sharen
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Hohe Kosten, keine Leute: Ist der Mittelstand am Ende?

Hohe Energiekosten, viel Bürokratie und fehlende Fachkräfte: Der Mittelstand steht vor vielen Herausforderungen. Ist der Punkt erreicht, an dem viele mittelständische Unternehmen Deutschland verlassen? Possoch klärt!

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Ohne den Mittelstand geht in Deutschland kaum etwas: Die circa 3,81 Millionen mittelständischen Unternehmen beschäftigen in Deutschland mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer – und sind damit das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Gleichzeitig scheint das wirtschaftliche Überleben für sie am Standort Deutschland immer schwieriger zu werden. Im Interview mit BR24 für "Possoch klärt" (Video oben, YouTube-Link unten) stellt Wirtschaftsprofessorin Veronika Grimm fest: "Wir stellen den Mittelstand vor substanzielle Herausforderungen."

Eine Herausforderung jagt die nächste

Der Mittelstand – das sind in Deutschland die Unternehmen, die entweder einen Jahresumsatz von mindestens einer Million Euro bis zu 50 Millionen Euro erwirtschaften oder zehn bis 499 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen. Und diese Unternehmen haben es derzeit nicht leicht.

Zuerst kam die Coronakrise, die den Mittelständlern mit Lieferkettenproblemen und Lockdowns das Leben schwer gemacht hat. Dann kam der russische Angriff auf die Ukraine, durch den die Lieferengpässe verschärft wurden und die Energiekosten in die Höhe geschnellt sind. Mittlerweile beklagen viele Mittelständler, dass das Wirtschaften in Deutschland immer schwieriger wird: "Was wir momentan erleben, ist vor allem eine Vertrauenskrise. Der deutsche Mittelstand, die Unternehmen aus dem deutschen Mittelstand, brauchen eine gewisse Planungssicherheit", sagt Matthias Bianchi vom Deutschen Mittelstands-Bund (DMB) im BR24-Interview.

Laut Bianchi geht es den Unternehmen dabei vor allem um die Fragen, wie sich die Energiepreise in den kommenden Jahren entwickeln werden, welche Steuerlast Unternehmen in der Zukunft zu erwarten haben und wie Deutschland den Fachkräftemangel angehen will.

Die Politik wagt einen Anfang

Die Herausforderungen, die durch Corona und den russischen Angriff entstanden sind, waren schwer vorhersehbar. Der demografische Wandel dagegen und die daraus entstehenden Probleme zeichnen sich schon seit Jahren ab: "Die demografische Entwicklung ist seit Jahren, wenn nicht schon seit Jahrzehnten, erkennbar und auf dieser Grundlage hätte sowohl die Politik als auch die Wirtschaft frühzeitig reagieren können", sagt Torsten M. Kühlmann, Präsident des Betriebswirtschaftlichen Forschungszentrums für Fragen der mittelständischen Wirtschaft e.V., im Gespräch mit BR24.

Im Video: Zerstören wir den Mittelstand? Possoch klärt!

Reagiert wird jetzt von Seiten der Politik. Nach langem Hin und Her hat die Regierung jetzt das Wachstumschancengesetz beschlossen. Das Gesetz soll Unternehmen steuerlich entlasten, sie von bürokratischen Hürden befreien und die Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen schaffen. Matthias Bianchi vom DMB sieht darin zwar Potenzial, gleichzeitig aber stellt er fest: "Was wirklich schade ist und sehr bedauerlich aus unserer Perspektive, ist, dass die Investitionsprämien, die auch im Koalitionsvertrag zum Beispiel im Bereich digitale Transformation angekündigt worden sind, nicht den Weg in dieses Gesetz geschafft haben. Das heißt, das Wachstumschancengesetz hat eine Berechtigung, aber wir hätten uns da einen größeren Wurf gewünscht."

Bildrechte: picture alliance / Flashpic | Jens Krick
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, auch Wirtschaftsweisen genannt. Veronika Grimm, 2 v.l.

Auch Veronika Grimm, die als eine der fünf Wirtschaftsweisen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands analysiert, sieht hier Bedarf. Ihrer Meinung nach müssen wirtschaftliche Rahmenbedingungen für Unternehmen attraktiver gemacht werden, beispielsweise durch Steuerentlastungen oder Fachkräfteverfügbarkeit.

Die FDP und Finanzminister Christian Lindner gehen noch einen Schritt weiter. Sie haben einen 12-Punkte-Plan vorgestellt, mit dem sie die Wirtschaftswende vorantreiben wollen. Der Plan sieht unter anderem eine Reform des Bürgergelds, steuerliche Vorteile für Überstunden, den Wegfall des Solidaritätszuschlags und die Abschaffung der Rente mit 63 vor. Die Wirtschaft soll vorangebracht werden – auf Kosten der Sozialpolitik, kritisieren unter anderem die Koalitionspartner SPD und die Grünen.

"Das Geld, was an den Staat geht, das fehlt im Betrieb"

Mittlerweile müssen sich immer mehr mittelständische Unternehmen – egal ob Bäcker, Dachdecker oder Industriebetrieb – Gedanken dazu machen, wie sie in Zukunft weiterhin gut wirtschaften können. Denn: "Deutschland ist ein Hochsteuerland und das heißt: das Geld, was in Steuern, also an Abgaben an den Staat geht, das fehlt natürlich im Betrieb", so DMB-Vertreter Bianchi. Investitionen in die Digitalisierung oder in die Energiewende werden deswegen hintangestellt. Und das, obwohl der Wille zum Wandel da wäre.

Um weiterhin gut wirtschaften zu können, denken einige mittelständische Unternehmen deswegen darüber nach, zumindest Teile ihrer Produktion ins Ausland zu verlagern. "Das geht aber auch nicht zwingend zulasten der inländischen [Standorte]. Aber eine gewisse Tendenz gibt es eben schon", sagt der Projektleiter am Institut für Mittelstandsforschung Bonn, Hans-Jürgen Wolter.

Bürokratie für alle

Zu den finanziellen Belastungen kommen die bürokratischen Anforderungen, die gleichermaßen an jedes mittelständische Unternehmen gestellt werden. Egal wie groß oder klein der Betrieb auch ist: "Da müssen Sie den Mittelständler im Vergleich zum Großunternehmer sehen. Der hat eine Fachabteilung, der hat Juristen, die sich das anschauen und darauf reagieren können. Gerade in kleinen Unternehmen bleibt das oft am Geschäftsführer selbst hängen. Und der hat natürlich nur sehr begrenzte Kapazitäten", erklärt Mittelstandsforscher Wolter.

Das eigentliche Problem: Der Fachkräftemangel

Das dringlichste Problem sind am Ende aber weder die hohen Kosten, noch die viele Bürokratie oder die Planungsunsicherheit. Am meisten leiden die mittelständischen Unternehmen darunter, dass sie keine qualifizierten Fachkräfte finden können. Ganz besonders leiden dabei die Mittelständler in ländlichen Gegenden.

Weil sie in Deutschland nicht die richtigen Leute finden, schauen sich mittelständische Betriebe dann im Ausland um. Wenn hier die Voraussetzungen stimmen, dann werden Produktionsstandorte verlagert, so wie es beispielsweise das Familienunternehmen Miele vorhat. Der Mittelstand geht also nicht zugrunde, er verlässt aber das Land: "Viele verlagern dann ihre Aktivitäten, und das muss uns als Land natürlich Sorgen machen", sagt Wirtschaftsweise Grimm.

Was, wenn Deutschland den Mittelstand verliert?

Der Fortbestand des Mittelstandes betrifft am Ende nicht nur die Wirtschaft, sondern die gesamte deutsche Gesellschaft. Ganz konkret würde eine Stagnation – also ein Stillstand im deutschen Mittelstand – auch dazu führen, dass weniger Steuereinnahmen zur Verfügung stünden, so Veronika Grimm. In der Politik würden diese fehlenden Steuereinnahmen dann zu härteren Verteilungskämpfen um öffentliche Ausgaben führen. Die wirtschaftliche Lage des Landes würde dann wieder und viel weitreichender die verfügbaren Steuern für beispielsweise Sozialausgaben beeinflussen.

Die Abwanderung der mittelständischen Unternehmen beeinflusst aber nicht nur das Wirtschaftswachstum in Deutschland, sondern hat auch andere weitreichende Folgen: "Da dürfte auch die politische Stimmung und der Extremismus stärker ausgeprägt werden", sagt Veronika Grimm.

Viele Herausforderungen, aber noch nicht das Ende

Bei allen Herausforderungen, denen sich der Mittelstand aktuell stellen muss – am Ende ist er noch nicht. "Also ich denke, dass letzten Endes der Standort doch nicht so schlecht ist, wie er oft gemacht wird. Ja, hier gibt es Probleme mit den Energiepreisen. Ja, die steuerliche Belastung ist relativ hoch. Aber es gibt natürlich auch durchaus erhebliche Vorteile. Hier hat man noch eine ganz andere Rechtssicherheit wie in manchen anderen Staaten, wo das nicht unbedingt gegeben ist", so Hans-Jürgen Wolter vom Institut für Mittelstandsforschung.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!